Grenzen

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Es ist überall. 
Es gibt kein Entkommen. 
Radio aus, Fernseher aus, Internet aus.
Ins Bett, unter die Decke, Finger in die Ohren, Augen zu.

„Stell dich doch nicht so an!“
„Benimm dich doch nicht so respektlos!“
„Die Angehörigen können doch auch nicht einfach die das Programm umschalten und alles ist wieder gut!“

Was für die einen schlechte Nachrichten, ein weiteres Unglück, ein kurzer Moment des Innehaltens, des Gedenkens und dann wieder Normalität ist, ist für andere der schlimmste Albtraum, ein grauenhaftes Monster, ein Trigger.


Ein Flugzeug ist abgestürzt, alle tot, eventuell ein Selbstmordattentat des Co-Piloten.

Ein Raunen geht durch die Mengen, wilde Spekulationen, vielleicht ein paar Tränen, der flüchtige Gedanke an die eigene Sterblichkeit, ein kurzer Anruf bei Verwandten denn wir könnten ja alle plötzlich sterben, dann wieder Alltag.
Für jemand anderen bedeutet das Atemnot, Schwindel, Panikattacken, Stimmungsumschwung, alles in Frage stellen, Erinnerungen, erneut Selbstmordgedanken, alles ist plötzlich anders.

Und dabei meine ich nicht die unmittelbaren Betroffenen oder Angehörigen der Opfer.
Die sollen hier ganz außenvor bleiben.

Ich spreche von mir, von dir, von ihr, von ihm, von uns.
Wer sind wir?
Psychisch Kranke? Verrückte? Sensibelchen?
Was sind wir?
Gestört? Nicht in der Lage uns zu distanzieren? Empathisch? Egoistisch? Selbstsüchtig?


Trigger – ein Wort, ein Gegenstand, ein Gefühl, eine Person, ein Ereignis, usw., das eine Erinnerung, starke Emotionen, Unwohl-sein, Panikattacken, ein verdrängtes Trauma, usw. unerwartet auslösen kann.
Trigger kann alles sein, die Reaktion von Individuum zu Individuum unterschiedliche Ausprägungsgrade erreichen. Alles ist möglich.
Wer unter psychischen Problemen leidet – und das können diagnostizierte Krankheiten oder auch einfach „Alltagsstress“ sein - , ob nun wissentlich oder unbewusst, kann jederzeit mit einem Trigger konfrontiert werden und darauf reagieren, und das muss nicht immer sofort sichtbar oder wahrnehmbar sein. Damit meine ich, für jeden Mensch gibt es Inhalte, Personen, Orte oder Ereignisse an die er sich nicht gerne erinnert, und bei deren Thematisierung Unwohl-sein ausgelöst wird.
Natürlicherweise versucht man triggernde Dinge zu vermeiden, um nicht die unangenehme psychische und/oder körperliche Belastung hervorzurufen.
Jetzt stellen sich die Fragen:

Wo hört meine Pflicht, Respekt und Anteilnahme zu zeigen auf, wo hört mein Selbstschutz an?
Wie weit ist es gesellschaftlich notwendig, sich Neuigkeiten über z.b.: den Flugzeugabsturz anzuhören, Kommentare zu den Geschehnisse auszuhalten, eine abrufbereit Meinung zu haben?
Ist es unhöflich sich dem zu entziehen, die Augen zu verschließen, „so zu tun als wäre nichts passiert“, auf die Comedyserie umzuschalten, nicht weil man taktlos ist, sondern weil man es selbst einfach nicht erträgt?

Was ertrage ich und was toleriert ihr?
Ist es für mich aushaltbar, auf dem Laufenden zu bleiben, die normalen Nachrichten, aber keine Sondersendungen zu sehen, und dann auszuschalten und normal weiter zu machen?
Ist es für die Hinterbliebenen, meine Mitmenschen tolerierbar, wenn ich mich distanziere, wenn ich nicht trauere, keine Schweigeminute einlege, keine Blumen an Gedenkstätten lege und keinen RIP-Post auf meiner social media seite poste?
Ist es erlaubt, mich selbst zu schützen? Mein Wohlergehen über die eventuellen Bedürfnisse der anderen zu stellen?
Kann ich mit meinem schlechten Gewissen leben? Habe ich genug Selbstbewusst-Sein zu mir zu stehen und kenne ich mich gut genug um zu wissen "bis hierhin und nicht weiter"?

Wie viel kann, muss, darf? Wie viel ist zu viel, nicht ertragbar, nicht zum Aushalten?
Kenne ich meine Trigger? Weiß ich wie ich sie vermeide? Kenne ich meine Reaktion darauf? Kann ich mich selbst im Notfall wieder beruhigen oder habe ich Telefonnummern, engste Vertraute, einen Therapeuten in erreichbarerer Nähe, wenn ich an meine eigenen Grenzen komme? Kann ich diese Grenzen auch übertreten, wenn es mir nötig erscheint, wenn ich glaube dass es der Anlass verlangt?
Wo befinden sich die Grenzen? Wer definiert sie?

Was ist eure Meinung?


Zusatz für Vader, Holden, Geronimo, Fuchs des Mondes,Clara - respektiert eure Grenzen und die anderer.
Selbstschutz hat Priorität, auch wenn andere es nicht nachvollziehen können, eure Wahrnehmung ist richtig, eure Gefühle real und Selbstfürsorge,Verständnis und Toleranz das wichtigste. Niemandem ist geholfen,wenn man sich selbst für andere quält.


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Bildquelle: http://www.chicagospeechandmore.com/, 26.03.2015

1 comment :

  1. Ich habe ziemlich große Flugangst und generell Angst vorm Tod allgemein und für mich waren die letzten Tage die Hölle was Nachrichten usw anging. Ich war immer an der Grenze eine Panikattacke nach der anderen zu bekommen. Wenn ich diese Gefühle äußere wird mir vorgeworfen dass es dabei nicht um mich geht und eben diese Äußerung egoistisch ist, da ich ja nicht direkt davon betroffen bin. Es macht mich traurig und bedrückt mich noch mehr, dass ich nicht mal darüber reden kann wie mich dieses Ereignis fühlen lässt, nur weil meine Gefühle nicht mit denen der Masse überein Stimmen.
    Deswegen danke für diesen Beitrag, der auch mal die andere Seite der Medaille beleuchtet.

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